Der „Arabische Frühling“ geht in eine neue Phase. In Tunesien hat das Volk mit großer Mehrheit eine islamistische Partei ins Parlament gewählt. In Libyen hat der Übergangsrat nach dem Tod Gaddafis angekündigt, die zukünftige Verfassung an der Scharia ausrichten zu wollen. Und in Ägypten überschatten Unruhen und Repressionen von Militär, Geheimdienst und Polizei die Vorbereitungen auf die Parlamentswahlen, die am 28. November beginnen sollen.
Die Geschäftsführerin des weltweiten katholischen Hilfswerks „Kirche in Not“ in Deutschland, Karin Maria Fenbert, weist im Interview auf die schwierige Lage der Christen in den Ländern der „Arabellion“ hin, die ihrer Ansicht nach in der Berichterstattung über die Umbrüche im Nahen Osten zu kurz kommt.
Frau Fenbert, die Wahl in Tunesien und die Aussagen des Übergangsrates in Libyen deuten darauf hin, dass der Islam in der Region in Zukunft eine stärkere politische Rolle spielen wird als bisher. Beunruhigt Sie das? Selbstverständlich. Wir sind in großer Sorge um die christlichen Minderheiten in Nordafrika und im Nahen Osten. Wir befürchten, dass sie noch weniger als bisher ihr grundlegendes Menschenrecht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit ausüben können. Das Grundproblem der nun an Machtfülle gewinnenden islamisch geprägten Parteien der Region ist, dass sie, anders als zum Beispiel die deutschen Christdemokraten, Religion und Staat nicht trennen.
Eine solche islamische Partei wird einem Muslim niemals das Recht zugestehen, seinen Glauben aus Gewissensgründen abzulegen und Christ oder Atheist zu werden. Und sie wird diese religiös motivierte Einschränkung der Menschenrechte politisch durchsetzen wollen. Das ist in meinen Augen eine unzulässige Vermischung von Religion und Politik.
Man liest in unseren Medien zurzeit häufiger davon, dass es ja nur „gemäßigte islamistische Parteien“ seien, die an die Macht drängen. So zum Beispiel in Tunesien die „Ennhada“-Partei oder auch die Muslimbrüder in Ägypten. Wie gemäßigt sind diese Parteien? Das wissen die Medien offensichtlich selber nicht, denn der Ausdruck „gemäßigt islamistisch“ ist ein Paradoxon. Ein Islamist ist dadurch gekennzeichnet, dass er eine totalitäre politische Ideologie vertritt. Sein Ziel ist es, eine homogene islamische Gesellschaftsordnung zu schaffen, die nach seinen Vorstellungen idealerweise von einem Geistlichen als politischen Führer geleitet wird und in der für Andersgläubige kein Platz ist. Durch diese Einstellung wird ein Muslim in unseren Augen zum Islamisten und diese Einstellung vertreten sowohl die Muslimbrüder, als auch die „Ennhada“-Partei.
Der Ausdruck „gemäßigt islamistisch“ zeugt von dem Versuch, dem Sieg von antihumanen Kräften in den Ländern des „Arabischen Frühlings“ seinen Schrecken zu nehmen. Da es die Journalisten besser wissen, können sie weder die Muslimbrüder noch die „Ennhada“-Partei guten Gewissens einfach nur als „islamisch“ bezeichnen. Daher greifen sie zum Strohhalm des Paradoxons und begnügen sich damit, diese Parteien als „pragmatische“ Islamisten hinzustellen, mit denen man im politischen Alltagsgeschäft schon zurechtkommen werde. Das allerdings traf auch auf die gestürzten autoritären Regime in der Region zu, die sich sicher niemand zurückwünscht.
Nun scheint es aber so, als ob sich die Muslimbrüder und ähnliche Parteien so weit gemäßigt haben, dass sie für die westliche Politik und die Medien akzeptabel sind …Für den Westen akzeptabel war das Regime Mubarak auch, doch das ägyptische Volk fand die Zustände trotzdem unerträglich. Ich glaube gerne, dass deutsche Touristen und auch unser Außenminister von der fortschreitenden religiösen Radikalisierung dieser Länder wenig mitbekommen, denn für Geld machen selbst Islamisten Ausnahmen von ihren angeblich so hehren Moralvorstellungen.
Doch was ist mit den religiösen Minderheiten in den Ländern des „Arabischen Frühlings“? Was ist mit der freiheitlich und demokratisch gesinnten jungen Mittelschicht, die die „Arabellion“ überhaupt erst ins Rollen gebracht hat? Indem die deutschen Medien islamistische Parteien als „gemäßigt“ und somit als akzeptabel darstellen, fallen sie genau den Kräften in den Rücken, die sie anfangs bejubelten und die den „Arabischen Frühling“ als humanen Aufbruch begonnen haben.
„Kirche in Not“ hat viele Länder des „Arabischen Frühlings“ bereits vor der Revolution für die Missachtung von Religionsfreiheit gerügt. Glauben Sie, dass es nun noch schlimmer kommen könnte? Ob es „noch schlimmer“ kommt, ist im Moment schwer zu sagen und hängt im Wesentlichen davon ab, wie stark sich die freiheitlich-demokratischen Kräfte einigen und ein Gegengewicht zu den Islamisten bilden können. Dafür benötigen diese wirklich gemäßigten Parteien die Unterstützung des Westens. Unsere Politik ist gut beraten, lieber die demokratischen Kräfte vor Ort zu unterstützen als mit den Muslimbrüdern zu paktieren.
Wie war die Religionsfreiheit denn bisher in den autoritär regierten Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens geregelt und was könnte sich daran konkret ändern? Natürlich konnte schon bisher in diesen Ländern von echter Religionsfreiheit keine Rede sein. Den Christen war zwar die Ausübung ihres Glaubens erlaubt, allerdings wurden sie in vielerlei Hinsicht diskriminiert und unterdrückt. Gewisse Ämter und Karrieren waren ihnen von vorne herein verboten. Und ein Muslim, der zum Christentum übergetreten ist, bekam schon bisher erhebliche Schwierigkeiten in seiner Familie und am Arbeitsplatz.
Wir befürchten, dass diese gesellschaftlich geduldete Diskriminierung in Zukunft noch weiter politisch zementiert wird. Das könnte im schlimmsten Fall zum Sieg eines totalitären Islamismus und zu saudi-arabischen Verhältnissen führen, wo die Religion den Staat völlig bestimmt.
Am 28. November beginnen die Parlamentswahlen in Ägypten. Welche Hoffnungen und Befürchtungen haben Sie diesbezüglich? Die große Frage, die sich in Nordafrika und im Nahen Osten stellt, ist: Wie demokratiefähig sind die islamischen Gesellschaften wirklich? Schon möglich, dass parlamentarische Staatsformen entstehen und sich halten, aber wie wird die muslimische Mehrheit mit der andersgläubigen Minderheit umgehen? An der Wahl und der anschließenden demokratischen Praxis in Ägypten wird sich viel entscheiden. Das bevölkerungsreichste Land der Region wird Maßstäbe setzen, denen sich seine Nachbarn kaum werden entziehen können.
Das Massaker an koptischen Demonstranten am 9. Oktober in Kairo hat darüber hinaus gezeigt, dass die Islamisten nicht die einzige Bedrohung für die Errichtung eines demokratischen Rechtsstaats in Ägypten darstellen, denn hier wurden religiöse Gründe als Vorwand für eine Machtdemonstration des Militärs vorgeschoben. Die wirtschaftlich und innenpolitisch mächtige ägyptische Armee wird ihre Machtpfründe ebenso wenig aufgeben wollen wie die Polizei und der Geheimdienst.
Die Demokratie befindet sich in Ägypten also in der Mangel zwischen Islamisten und alten, autoritären Seilschaften. Wenn sie Erfolg haben soll, muss sich der Westen klarer positionieren. Wir erwarten von der westlichen Politik, dass sie ihre Hilfen für Ägypten deutlicher an demokratische und rechtsstaatliche Bedingungen knüpft als bisher und den Schulterschluss zu den demokratischen Kräften vor Ort sucht. Andernfalls wird die Demokratie in Ägypten scheitern und die Ureinwohner des Landes, die koptischen Christen, werden weiter unterdrückt, ermordet und vertrieben.